Wie geht man….in diesem Fall ich…damit um, dass ein Gedanke, der einen fast ein Leben lang beschäftigt hat, falsch war?
Dienstag habe ich meinen 50. Geburtstag gefeiert.
Eigentlich hatte ich meinen nächsten Beitrag hier im Blog schon fest im Kopf getextet, doch nun hat ein anderes Thema absoluten Vorrang.
Nix in der Art: „Ich bin 50, was mach ich gegen Falten und graue Haare?“
Das Jammer-Thema habe ich schon dem 30. Geburtstag.
Nein…ganz anders…
Auf meinem Geburtstag bekam ich einen Anruf, mit dem ich nicht mehr gerechnet habe.
Nach fast 10 Jahren hatte ich meine Schwester an der Strippe.
Und bämm, ist die Vergangenheit da, während im Nebenraum die Gäste mit Dir den heutigen Tag feiern wollen. Das ist ein Spagat, den ich nicht so selbstverständlich schaffen könnte wie vielleicht stabilere Menschen.
Aber ich habs ganz gut gewuppt, obwohl ich in Tränen ausgebrochen bin. Sie hat dann vorgeschlagen, Donnerstag wieder zu telefonieren.
Die Zeit bis dahin war für mich lang, weil ich mir nicht sicher sein konnte, ob sie wirklich wieder anruft…und ich hatte Angst davor, wie ich damit umgehen sollte, wenn das Telefon wieder still geblieben wäre wie Frühjahr 2008.
Meine andere Angst war und ist aber noch viel größer…ich bin jetzt anders als damals, der Deckel vom Schnellkochtopf ist hochgeflogen…ich bin nunmal seit geraumer Zeit dabei, die dunkelsten Stunden meiner Biografie aktiv aufzuarbeiten und genau hinzuschauen, was „damals“ alles passiert ist.
Und meine Schwester ist ein Teil davon. Wie geht sie damit um, dass ihr „Opa“ sich jahrelang an mir vergriffen hat? Wird sie mir glauben? Wird sie mich ablehnen? Wird sie mich hassen und beschimpfen??
Ich kürze es mal ab…all meine diplomatischen Pläne, die ich mit meinem Freund für den Donnerstag ausgeklügelt hatten, sind hinfällig gewesen…und ich habe alles rausgesprudelt, was ich soooo lange auf dem Herzen hatte.
In dem 3 Stunden- Telefonat habe ich meine Lebensbiografie im Schnelldurchlauf abgearbeitet, mit all den Dingen, die ich nie zu ihr sagen durfte. Über unsere Eltern, über das Verhältnis zu ihren Adoptiveltern, mein Leben ohne Familie, meinen Sohn….
und über den Täter und was er getan hat….
Und meine Schwester? Was sagte sie? “ Ja ich weiß, er hat das bei mir auch gemacht.“
Bämm…..
Ok…nach genauem Nachhaken ist es bei ihr wohl nicht so schlimm gewesen, sie war ja auch jünger….und er hat sie nicht bis zum Finale missbraucht, aber angepackt hat er sie schon.
Sie hat es nie jemandem gesagt, niemandem! Sie hats für sich in eine Schublade gesteckt.
Meine Schwester weiß nicht, ob sie auch den Mund aufgemacht hätte, wenn ich mich geoutet hätte…sie weiß auch nicht, ob sie jetzt in der Lage ist, im schlimmsten Fall bei Gericht als Zeugin auszusagen, falls meine Glaubwürdigkeit doch noch von irgendjemandem beim OEG angezweifelt werden sollte, obwohl sie mit ja „eigentlich“ glauben.
Aber eine wirkliche schriftliche Anerkennung fehlt ja bisher.
Während der Übergriffe habe ich immer gedacht, ich beschütze meine Schwester und er lässt sie in Ruhe…später bin ich davon ausgegangen, dass ich mich vollkommen umsonst „geopfert“ habe, weil ER sich wahrscheinlich nicht getraut hätte, sie anzupacken, weil sie eine starke Familie im Rücken hatte.
Und jetzt erfahre ich, dass jeder meiner Gedanken vollkommen falsch war.
Ich habe meine kleine Schwester nicht beschützt….im Gegenteil…mein Schweigen hat es ermöglicht, dass er es auch mit ihr angefangen hat.
Warum habe ich mich mit 16 von meiner Oma abhalten lassen, dieses Dreckschwein anzuzeigen? Warum habe ich mich nicht früher gewehrt?
Dieser Mann hätte jeden einzelnen Tag Gefängnis und die Schmach, als Pädophiler geoutet zu sein, bis ans Ende seiner Tage verdient!
Meinen Start ins nächste halbe Jahrhundert sehe ich jetzt mit sehr gemischten Gefühlen.
Schuld und Wut…. diese Gefühle überdecken schleichend die klitzekleine Freude, dass meine Schwester den Mut hatte, den ersten Schritt in meine Richtung zu machen.
Was mache ich, wenn genau dieser Gedankengang auch bei ihr aufkommen wird?
Dass ich sie nicht beschützt habe?
Wie kann ich dann damit umgehen? Wird sie mich noch mehr ablehnen?
Werde ich mich noch mehr ablehnen und noch mehr bestrafen?
Ich habe richtig Schiss, wie es sich mit meiner Schwester entwickeln wird.
Sie möchte mich gerne besuchen….und ich hab nur Angst.
Eure sehr mitgenommene Rapunzel
17. November 2017 at 14:04
Bei mir war es sehr ähnlich. Ganz viel kraft für dich!
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17. November 2017 at 16:32
Wie hast Du das gelöst?
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17. November 2017 at 14:05
Ich möchte hier nicht einfach ein „Like“ hinterlassen. Aber ehrlich gesagt, bin ich sprachlos. Ich weiss nicht, was ich dazu sagen soll. Ich bin in Gedanken bei dir…
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17. November 2017 at 16:31
Danke UT
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17. November 2017 at 16:18
Hallo Rapunzel, kann mir denken das du völlig fertig bist. Für den Besuch deiner Schwester nimm jemanden an deine Seite,der oder die dich stützen kann. Mach dir eine Liste auf der für dich wichtige Fragen und Erlebnisse stehen, die du eventuell besprechen möchtest. Ganz viel Kraft.
Dennoch alles Gute zum Geburtstag! Lg Lotta
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17. November 2017 at 16:31
Vielen Dank für den Tip….und fürs Glückwünschchen 🙂
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17. November 2017 at 21:37
Liebes Rapunzel,
gut, dass ihr Schwestern einen Schritt vorwärts getan habt. Gleichzeitig ist jeder Schritt voran auch ein Schritt auf neues Terrain und das verunsichert. Ich kann es nachvollziehen, dass Du Angst hast und Dir Schuld zusprichst. Auch ich war mit 12 Jahren in einer Situation wo ich meine kleine Schwester nicht beschützen konnte, auch ich habe mir deswegen Versagen vorgeworfen. Du hattest getan, was Dir möglich war. Hast den Unhold an Dich rangelassen, um Deine kleine Schwester vor ihm zu schonen, dass es Dir dennoch nicht gelang liegt nicht an Dir, Du trägst keine Schuld. Schuld ist der Großvater – Opa würde ich so einen Verbrecher nicht nennen -, er hat das Verbrechen begangen. Schuld daran ist aber auch Deine Großmutter, die, obwohl sie wusste, was dieser Verbrecher tat, Dich davon abhielt, ihn anzuzeigen. Ihr war der Ruf der Familie mehr wert, als Deine Seele. Sie sah zu, wie der Verbrecher Deine Seele zerbrechen konnte. Auch daran trägst Du keine Schuld.
Schuldgefühle sind ein starker Komplex der Missbrauchserfahrung. Es ist ein böser Pilz, der sein Myzel bis in die kleinsten Winkel der Seele verästelt. Ich habe vier Jahre in meiner Therapie daran gearbeitet, bis ich mich aus den absurden Schuldgefühlen soweit lösen konnte, dass sie mich nicht mehr belasten. Ich habe über diesen Prozess ausführlich gebloggt. Ich hoffe, Deine Therapeuten sind auch Dir dabei eine Hilfe.
Ich spreche trotzdem mit meiner Schwester nicht mehr und nur mit einem meiner Brüder Small Talk zu den Geburtstagen. Die Familie will lieber mit dem Mokita sterben, und es ist nicht meine Sache, dies zu ändern. – Meine Sache war es, mich von den falschen Schuldgefühlen zu befreien.
Ich wünsche Dir viel Kraft und Geduld dabei
LG Lotosritter
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18. November 2017 at 13:45
Ich danke Dir für diesen starken Beitrag.
Du hast recht, ich muss aufhören, mich gedanklich immer weder der Familie zuzuwenden…zu hoffen auf emotionale Zuwendung, Anteilnahme, Verständnis, Mitgefühl und Wiederaufnahme in den Schoß der Familie.
Zu hoffen auf eine Systemwiederherstellung in den erträumten Familienmodus (den es nie gab und nie geben wird)
Vielleicht habe ich durch meine Schwester jetzt vielleicht endlich die Möglichkeit zu lernen, dass auch ich entscheiden kann, wie Familie aussehen kann…wie Nähe entsteht oder wie sich Entfernung ohne Bitternis entwickeln kann. Ohne das Gefühl des Versagens, es Vermissens, des Mangels.
Ja…mal sehen….in der Theorie ist das alles sachlich niederzuschreiben…aber die Realität scheißt auf Theorie 😉
Ich muss mal in Deinem Blog ein bisschen suchen…oder vielleicht magst Du mir die entsprechenden Beiträge mal verlinken ?
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18. November 2017 at 17:01
Hier findest Du die Beiträge zur Schuld: https://lotoskraft.wordpress.com/?s=Schuld . Sie drehen sich im wesentlichen darum, dass ich nicht verstehen konnte, dass mein Körper beim Missbrauch durch die Mutter funktionierte. Ein Freund, dem ähnliches geschah, brachte es auf die Formel: „Mein Körper hat mich verraten.“
Dein Tweet hat mich gestern nacht angestiftet, eine E-Mail an meinen Neffen zu schreiben, in der ich ihm anbot, über Missbrauch und Misshandlung in der Familie zu sprechen. Ich habe sie nicht abgeschickt. Erstens weiß ich dazu zu wenig von ihm, zum anderen steckte er in einer – so wie ich es beobachtete – wahrscheinlich übergriffigen Beziehung zu seiner Mutter. Ich hätte ihn womöglich mit einer Geschichte belastet, die ihn selbst belasten würde, bzw. mit einer Sache konfrontiert, die ihn eher verunsichert hätte. – Zudem habe ich überhaupt keinen Bock mehr auf diese Familie. Sie ist für mich nur verrottet.
Also bleibe ich bei mir und meinem neuen sich entwickelnden Leben
Servus Lotosritter
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21. November 2017 at 11:01
Hey Du,
erst mal, wünsche ich dir trotzdem einfach nachträglich alles Gute zum Geburtstag, obwohl ich mir nicht mal sicher bin, ob das so richtig angebracht ist im Moment, ich mach es einfach trotzdem 🙂 Alles Gute!
Ich wünsche Dir dazu viel Kraft für die nächsten Tage und möchte trotzdem sagen, dass egal wie deine Schwester reagiert, du nicht Schuld bist. Da ich das Thema Schuld ganz schlimm finde, stockt mir schier das Mark, dass du dir die Schuld gibst, deine Schwester nicht beschützt zu haben. Ich kann natürlich verstehen, dass das Gefühl aufkommen kann, aber als Kind kann wohl niemand eine Schwester richtig vor solchen Taten beschützen!
Ich plage mich phasenweise auch echt mit vielen Schuldgefühlen und das ist ziemlich scheußlich. Zumal die auch oft im Grunde unberechtigt sind, dennoch sind sie natürlich da und nicht einfach klein zu reden, ganz klar.
Ich glaube wenn deine Schwester zwar nicht den vollen Umfang abbekommen hat, aber erst jetzt das Eis aufgebrochen hat, dann braucht sie dich heute hier und jetzt als Schwester und als Hilfe, denn du weißt wie man so was angehen kann und Beginnen kann aufzuarbeiten. Heute kannst du ihr helfen, früher war das in Anbetracht der Umstände eigentlich unmöglich.
Und trotzdem darfst du dich selbst nicht vergessen dabei, also was die neue Situation mit Dir macht. Und wie du dich dabei fühlst. Und das ebenfalls benennen und ansprechen ist glaube ich ganz wichtig.
Turbulente Zeiten!
Viel Kraft dafür und liebe Grüße
Sappy
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21. November 2017 at 15:05
Ich danke Dir für Deine lieben Worte, Sappy.
Meine Schwester wird Donnerstag Mittag zum „Frühstücken“ kommen.
Wir haben gestern via WhatsApp den Termin ausgemacht, nachdem ich mit meiner Wohnbetreuung über die Situation gesprochen habe.
Und dann werden wir….und da gehen die Augen schon auf Hochwasser…zum ersten mal gemeinsam in den Fotoalben unsere Kindheit rekonstruieren und aufleben lassen dürfen als SCHWESTERN.
Sie kennt die Bilder alle gar nicht.
Ich bekomme jetzt den Moment, auf den ich fast 5 Jahrzehnte gewartet habe.
Ich hoffe, das ist für mein Inneres mehr wert als die Angst und Unsicherheit, als Schwester trotz aller Bemühungen versagt zu haben.
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22. November 2017 at 23:34
Es ist gut das Ihr zusammen versucht es aufzuarbeiten….das ist ein toller Schritt….Deine Schuldgefühle sind menschlich….aber es ist klar das Du keine Schuld zu haben brauchst….Du bist nicht Schuld, Du hast deiner Schwester nichts getan….aber Verstand und Gefühl gehen oft leider getrennte Wege.
Ich wünsche Dir/Euch ganz viel Kraft
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28. Dezember 2017 at 21:37
Verstehe ich richtig? Bist Du auch am 17.11.1967 geboren?
Ich war an dem Tag in der Klinik und 3 Tage zuvor ist meine Mama gestorben.
Ich warte einfach bis 2018 und lasse dies Jahr hinter mir
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8. Januar 2018 at 20:02
14. 😉
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4. Juni 2018 at 20:01
https://polldaddy.com/js/rating/rating.jsund ich dachte, ich kann durch Duldung meine Töchter schützen…Jahrzehnte später erfahren, das ich falsch dachte
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