Macht es Sinn, den Blick immer nach hinten zu richten?
Auf das, was zurückliegt?


Rapunzel hatte bei ihrer Kriesenintervention (was für ein scheiß Wort) im Januar ein supernettes Mädel als Zimmergenossin. Ich nenne sie Schneewittchen.
Rechnerisch hätte sie schon meine erwachsene Tochter sein können, wenn ich früh angefangen hätte und so fühlte ich mich schon etwas wie eine Glucke und im Mama-Modus.

Ich habe bis jetzt keine Ahnung, welche psychische Erkrankung Schneewittchen eigentlich hat, aber letztendlich spielt eine Diagnose auch keine Rolle, wenn ich mit Lebenserfahrung trumpfen kann.

Und so führten wir Einzeltherapiegespräche mit Cola, Schoki und Chips, wahlweise auf ihrem oder meinem Bett zu später Stunde.

Schneewittchen plagte ein Thema:
Sie schaute ganz ganz kritisch auf ihre Vergangenheit, was sie so verzapft hat in den letzten Jahren….wo sie wie reagiert hat, wen sie angemuckt hat, wo sie falsche Entscheidungen getroffen hat.

Mir ist dabei etwas aufgefallen….
Wann immer wir unsere Entscheidungen in der Vergangenheit überprüfen, entwickeln wir ein falsches Schuldverständnis.

Hätten wir anders gehandelt, wäre dieses oder jenes nicht passiert.
Hätten wir anders gehandelt, wäre unser Leben vielleicht anders verlaufen.
Hätten wir anders gehandelt, könnten wir unsere Zukunft anders leben.

Rapunzel im Mama- Modus entwickelte da bei diesen nächtlichen Gesprächen wahre Konfuzius- Qualitäten und versuchte bildlich zu erklären, warum diese Denkweise falsch ist.

Natürlich dürfen wir auch selber mal kritisch unsere Handlungen in der Vergangenheit unter die Lupe nehmen, aber bitte objektiv. Bloß das gelingt leider seltenst.

Ich habe es Schneewittchen so erklärt:
Unser Leben ist voll von Entscheidungen. Wir treffen jeden Tag hunderte davon, ohne es wirklich wahrzunehmen.

Wir entscheiden, wann wir aufstehen.
Wir könnten auch liegenbleiben und uns den Unmut unseres Lehrers, Chefs oder Kindes zuziehen.

Wir entscheiden, was wir anziehen.
Kurze Hose im Winter wäre möglich, wäre aber eben kalt an den Beinen. Aber wir könnten es tun.

Wir entscheiden, was wir essen.
Niemand darf sich über sein Hüftgold beschweren, wenn Schoki und Negerküsse abends auf dem Wohnzimmertisch stehen. Gemüsesticks wären auch möglich gewesen, schmecken aber eben nicht so lecker.

Wir entscheiden sogar, wann wir mit wem in Kontakt treten und wie wir dieses tun.
Wenn mich jemand anspricht, kann ich mich sauunhöflich abwenden oder mit halben Ohr zuhören. Ich kann aber auch eine supertolle Unterhaltung führen.

Ok…auf einen Bad-Hair-Day, Fressattacken wegen Liebeskummer, schlechter Laune wegen Hormonschwankungen oder z.B. Angstreaktionen haben wir wesentlich geringeren Einfluss, da wird uns die Entscheidung vom Körper abgenommen oder zumindest stark beeinflusst.

Die Liste der Entscheidungen, die wir am Tag treffen, ist sehr lang und vielfältig.
All unsere Gefühle, Erfahrungen, äussere Umstände und aktuelle Bewertung der vorliegenden Fakten beeinflussen uns in dem Moment, wo eine Entscheidung getroffen werden muss oder soll.
Natürlich versuchen wir dabei auch noch rational und logisch an diverse Entscheidungen heranzugehen, wenn uns die Zeit dafür bleibt. Aber die meisten Entscheidungen sind das Ergebnis von Millisekunden. Und natürlich greifen wir dabei auch mal so richtig ins Klo.

Aber eigentlich sind wir doch schlaue Kerlchen und treffen meistens HUNDERTE von richtigen Entscheidungen, sonst würde wir alle nicht heile die nächsten Stunden überstehen und uns reihenweise an der nächsten roten Ampel plattfahren lassen, weil wir vielleicht entscheiden würden, dass das Rot von Gestern heute das Grün ist.

Entscheidungen sind somit immer Aktionen, die nach dem aktuellen Wissens- und Gefühlsstand getroffen werden.

Unser Leben kann man sehen wie einen Film…nur ohne Drehbuch.

Und wenn wir so eine Entscheidung als Szene auf einem Filmstreifen sehen würden, auf so einer alten Kinokamera mit großen Filmrollen….
Wir könnten die Szene immer wieder vorwärts und rückwärts laufen lassen, es würde sich NICHTS, aber auch rein GAR NICHTS an dieser Szene verändern.
Sie würde IMMER GLEICH bleiben!
Wir würden auch gar nicht erwarten, etwas anderes zu sehen…das wäre seeeehr verdächtig (Ausserirdische? Couch beim Psychiater?)

Also warum quälen wir uns mit solchen sinnlosen Aktionen, dass wir unsere Entscheidungen, die wir in der Vergangenheit getroffen haben, immer wieder überprüfen?
Weshalb stellen wir sie in Frage? Weshalb entwickeln wir bei „schlechten“ oder „falschen“ Entscheidungen nachträglich Schuldgefühle?
Wenn wir in dem zurückliegenden Moment keine Schuldgefühle hatten, sondern das Gefühl, das einzig mögliche zu tun, dann war das eben so.
In dem Moment war diese Entscheidung für uns richtig und mit den Konsequenzen müssen wir leben. Und wir würden es zu dem Zeitpunkt in der Situation immer wieder so entschieden haben. Es gäbe keine andere Entscheidung.

Straftaten, bei denen andere Personen bewusst geschädigt wurden, klammer ich aus dem ganzen Text natürlich aus….

Wir lernen in der Gegenwart nur eventuell daraus, Faktoren und Situationen in der Zukunft etwas anders zu bewerten und andere Entscheidungen zu treffen, aber genau voraussagen kann das niemand. Für die Vergangenheit würde es aber niemals eine Änderung geben können.

„Richtige“ Entscheidungen, die uns nicht irgendwie Steine erkennbar vor die Füße geschmissen haben, werden übrigens auch nicht kritisch durchleuchtet.

Dabei kann eine Kippe, die wir achtlos weggeworfen haben, einen Waldbrand entfacht haben. Oder wenn wir nicht mit Tempo 130 auf der rechten Spur ordnungsgemäß auf der Autobahn langezuckelt wären, wären die anderen LKWs hinter uns auch schneller gewesen und es hätte 2 Kilometer hinter uns nicht den Auffahrunfall gegeben.
Oder wenn wir nicht so lange unser Kleingeld aus dem Portemonnaie an der Kasse gefischt hätten, hätte die Kundin hinter uns vielleicht noch den Bus bekommen.

Aber von den Konsequenzen dieser Entscheidungen erfahren wir nicht und deswegen bewerten wir sie auch nicht nachträglich als eine falsche Entscheidung und haben somit NULL Schuldgefühl.

Also sollten wir rückwirkend immer davon ausgehen, dass wir im Moment einer Entscheidung immer das Bestmöglichste für Uns und Andere erreichen wollten.
Dieses sollten besonders Opfer, die noch heute unter dem leiden, was ihnen widerfahren ist, niemals vergessen.
Selbstschutz, Gegenwehr, keine Gegenwehr, Schweigen, Reden…
Was immer ein Opfer in dem Moment und auch danach getan hat, diente dem Überleben.

Und nicht nur Schneewittchen hatte an diesem Abend ein AHA- Erlebnis…
Während des Erklärens wurde mir bewusst, dass ich selber auch nicht anders mit mir umgehe und habe mir vorgenommen, das zukünftig zu unterlassen und nach der Entlassung dieses Thema auch hier im Blog niederzuschreiben.

Eure Rapunzel